Wie so oft in der künstlerischen Praxis von Kris Lemsalu beginnt die Geschichte eines Kunstwerks in der Sphäre der Freundschaft: Vor etwa zehn Jahren fand eine Freundin der Künstlerin auf einem Waldspaziergang in Estland den Kiefer eines Rentiers und brachte ihn ihr als Geschenk von ihrem Ausflug mit. Aus dem Spiel mit der Form des Kiefers entstand zuerst das Bild eines Herzens, einer Vagina, eines Portals. Kris Lemsalu fertigte eine Gipsform an, goss die Kieferknochen in Porzellan ab, versah sie mit einer Strumpfhose und gestaltete daraus die Arbeit mit dem Titel Aldonza Lorenzo (Abb. 4). Dies ist bekanntlich der wahre Name von Dulcinea, der imaginären Geliebten des Don Quijote, die in Wirklichkeit – und um Wirklichkeit geht es ja in diesem Roman – Haare auf den Zähnen und eine alles durchdringende Stimme hat.
Später stieß Lemsalu in einem Buch auf die mythologische Gestalt der Baubo, die in der griechischen Sagenwelt als eine Art weibliche Hofnärrin die Göttin Demeter aufheitern will, welche um ihre Tochter Persephone trauert. Die Scherze der Baubo sind obszön und absurd, einer davon ist das Entblößen der Vulva. Aus dieser Erzählung entwickelte Lemsalu schließlich die Skulptur Baubo Dance (Abb. 5), in der wieder die Rentierkiefer zum Einsatz kommen, diesmal deutlicher als Vulva konnotiert. Nun aber verknüpfte sie das weibliche närrische Element mit einem rituellen Hexentanz um eine Feuerstelle und inszenierte die Kiefer als Vagina dentata (bezahnte Vagina), wie sie in zahlreichen folkloristischen Überlieferungen auf allen Kontinenten immer wieder auftaucht. In der Moderne wurde das Bild zwar von Sigmund Freud als Ausdruck von Kastrationsangst gedeutet, jedoch referiert Lemsalu auf ältere indigene Leseweisen wie die amuletthafte Warnung vor Vergewaltigung oder unstatthafter sexueller Annäherung.
Dass die Rentierkiefer nun ein drittes Mal im Werk Kris Lemsalus auftauchen, hat seine Ursache in der ursprünglichen dreifachen Leseweise als Herz, Vagina und Portal, die aus dem ersten spielerischen, runenwurfartigen Umgang mit der Form hervorging. Geburt und Wiedergeburt, Erneuerung und Jungbrunnen sind Themen, die Lemsalus Werk seit den Anfängen begleiten. Die Vagina als ein Portal, durch das wir in die Welt hineingeboren werden, spielte auch schon bei Lemsalus Installation Birth V (Abb. 6) für den Estnischen Pavillon bei der Biennale in Venedig eine zentrale Rolle. Die Idee des Portals, durch das man eine neue Welt, ein neues Stadium, einen neuen Lebensabschnitt betritt, wurde in Lemsalus Schaffen immer bedeutsamer. So stellt auch die Skulptur Doora, die am Melker Hafenspitz die Grenze zwischen Nibelungengau und Wachau markiert, ein Tor zwischen den Regionen dar.
Doora (Abb. 7) ist Lemsalus erste Arbeit für den öffentlichen Raum und hat im Laufe ihrer Entstehung zu einer für die Künstlerin neuen, extrovertierteren Arbeitsweise geführt. Sind die musealen Arbeiten eher verschlossen, introvertiert und orientieren sich am Blick nach innen, so gilt es für Lemsalu im öffentlichen Raum aus einer Außenperspektive zu fragen, was irgendjemand (und nicht sie selbst) gerne wahrnehmen und tun würde. Auch nimmt sie bereits bei Doora Anleihen bei der Populärkultur und begünstigt mit den an Emojis erinnernden Flügelchen Selfies und Schnappschüsse an dem stark touristisch frequentierten Standort der Figur. Für die nun auf dem Graben präsentierte Skulptur Chará ist Doora also ein wichtiger Anhaltspunkt, ein erstes Portal unter freiem Himmel.
Die Figur Chará (Abb. 1-3) schließlich – mit ihrer schrillen Farbe und naiven Herzform – nimmt Anleihen aus den seichten Gewässern der Populärkultur (man denke an die mit den Fingern geformten Herzen in den Social Media) ebenso wie aus den Tiefen der Mythologie und transportiert, so wie die Arbeiten Lemsalus es immer tun, eine persönliche Geschichte. Der titelgebende Name Chará (χαρά) ist das altgriechische Wort für Freude, und diese sieht Lemsalu in der Gesellschaft vernachlässigt und durch die Technik untergraben. Ob Dopaminausschüttung mittels digitaler Likes von Unbekannten oder Gehaltserhöhung aufgrund langjähriger Mitarbeit im Betrieb, wahre Freude kommt da nicht auf. Lemsalu möchte Lebensfreude und Fröhlichkeit als essentielle Lebenspraxis vermitteln, die den Weg zu Glück und unbefangener Lust öffnet. Chará soll ein Portal sein, das (wenn auch nur im Geiste) zu durchschreiten einer rituellen Handlung gleichkommt, die reinigend, bestärkend und erneuernd wirkt. Für Lemsalu ist Chará, also die Freude auch als Erkenntnis aus dem Älterwerden, als Schritt zu einem reiferen Umgang mit sich selbst, der Welt und den anderen Lebewesen zu verstehen und als Hoffnung auf eine neue, frohere Welt. (Thomas Brandstätter)
Ort
Kunstplatz Graben, Höhe Graben 21, 1010 Wien
Galerie
Weiterführende Info
Kris Lemsalu *1985 in Tallinn (EST), lebt in Tallinn
Zeitraum
16. August – 8. November 2023
Vermittlung - Veranstaltungen
- Eröffnung Mittwoch, 16. August 2023 / 18:00