Für sein „Kunstplatz Graben“-Projekt entwickelte der französische Künstler Julien Berthier die Idee des heroischen Reiterstandbilds weiter: Der Frontalität und einschüchternden Wirkung, die derartige Monumente normalerweise vermitteln, gewährte er eine Auszeit: MONUMENTAL BREAK. Eine Skulptur aus Gießharz, einer klassischen Bronze nachempfunden, wurde mit einem Winkelschleifer (einer „Flex“) in zweifacher Richtung bearbeitet: Während der Reiter in seiner sitzenden Position vom Körper des Pferdes losgelöst und auf den Boden verfrachtet wurde, war der sonst hoch erhobene Kopf des Pferdes nun gesenkt und nahm eine grasende Haltung ein. Berthier befragte mit diesem Gestus Demonstration und Repräsentation von Macht und Historie im öffentlichen Raum.
Der Titel MONUMENTAL BREAK meinte einerseits den Moment des Innehaltens, den sich Mensch und Tier gönnen, andererseits den formalen Eingriff an bzw. Bruch mit der Skulptur selbst. Gerade in einer Stadt wie Wien, wo sich an vielen zentralen Orten des urbanen Raums – dem Heldenplatz, dem Josefsplatz, dem Schwarzenbergplatz, der Augustinerbastei – Reiterstandbilder befinden, die geschichtliche Topoi in Gang setzen, forderte die Installation auf, tradierte und letztlich nicht mehr hinterfragte Seh- und Verhaltensweisen zu überprüfen. Mitten am Wiener Graben, dem österreichischen Nabel von Konsum, Luxus und Business, wurde der simple Akt des Pausierens zu einer subversiven Geste von Verweigerung und Verlangsamung: eine „Pause zweier Arbeiter innerhalb der die zeitgenössische Erwerbstätigkeit bestimmenden Effizienzlogik, eine unrühmliche Pose, Nichtstun an einem Ort immenser Betriebsamkeit und intensiven Konsumverhaltens“ (J. Berthier).
Historisch betrachtet berührte Berthier mit MONUMENTAL BREAK gleich drei neuralgische Punkte: den Beginn der Geschichte des Reiterstandbilds – Marc Aurel und sein Pferd auf dem Kapitol in Rom, das um 173 nach Christus datiert, ist das älteste und nach wie vor wohl berühmteste Reiterstandbild der Welt; den Ersten Weltkrieg – Berthiers Reiter simulierte in Kleidung und Funktion eine militärische Figur dieser Zeit, in der die Kavallerie und damit auch die Verherrlichung ritterlicher Tugenden zum Anachronismus wurden; und schließlich das Jahr 2015 – es war ein zeitgenössischer Don Quijote, der auf jeden hoheitsvollen Verhaltenscodex pfiff und aus der Bildsprache klassischer Skulptur buchstäblich ausstieg.
Die Strategie, auf einen vertrauten Seheindruck des Betrachters zu rekurrieren und diesen zu unterminieren, ist für Julien Berthier typisch. So hat der Künstler beispielsweise überdimensionale Rückspiegel oder ganze Blankoschilderwälder im städtischen Raum installiert, die U-Bahn-Station „Home“ erfunden oder ein Boot entworfen, das voll funktionstüchtig ist, aber so wirkt, als würde es kentern, weil sein Rumpf vertikal aus dem Wasser ragt. Berthier gehört einer Generation von zeitgenössischen Bildhauern an, die auf den radikalen Veränderungen aufbaut, welche die Gattung Skulptur seit den 1960er-Jahren erfahren hat. Die US-amerikanische Kunstkritikerin Rosalind Krauss schrieb bereits 1979 in der Kunstzeitschrift October über Skulptur im Zeitalter der Postmoderne: „Heute werden recht überraschende Dinge als Skulpturen bezeichnet.“ Klassische, jahrtausendealte künstlerische Techniken wie das Meißeln, Modellieren oder Schnitzen wurden jedoch bereits seit Marcel Duchamps Readymade-Verfahren zunehmend verworfen. Der Begriff der Skulptur erweiterte sich parallel zu einer allgemein stattfinden Entgrenzung von Kunst und Kunstbegriff. So geht es auch in Julien Berthiers bildhauerischer Arbeit nicht mehr darum, im althergebrachten Sinn etwas zu formen oder gar, wie Michelangelo es ausdrückte, „eine Figur, die im Stein schon fertig ist, aus dem Stein zu holen“. Vielmehr bedient sich Berthier am überreichen Formenarchiv von Vergangenheit und Gegenwart, das er subtilen Veränderungen unterzieht und ad absurdum führt. Ver-rückte Größenverhältnisse sind ein häufig anzutreffender, humorvoller Effekt: Während die Überdimensionalität eines konventionellen Reiterstandbilds auf einem Sockel im öffentlichen Raum kaum auffällt, wird in dem Moment, in dem die Position von Mensch und Tier verändert wird, auch ihr Monumentalcharakter bewusst – so begegneten Pferd und Reiter uns gleichsam als Bewohnern einer Insel Liliput wie in Jonathan Swifts Gullivers Reisen.
Text: Lisa Ortner-Kreil
Ort
Kunstplatz Graben, Höhe Graben 21, 1010 Wien
Galerie
Weiterführende Info
Künstler
Julien Berthier
*1975 in Besançon (FRA), lebt und arbeitet in Paris (FRA).
julienberthier.org
Zeitraum
19. Juni – 1. November 2015
Bemalter glasfaserverstärkter Kunststoff auf innenliegendem Stahltraggerüst
2-teilig
Pferd: 235 × 440 × 120 cm
Reiter: 191 × 126 × 176 cm
Vermittlung - Veranstaltungen
- Eröffnung Dienstag, 16. Juni 2015 / 17:00